WENN DER TRAUM DAS LEBEN KÜSST
Prolog
Mike, 26. Februar
Ein Schluchzen drang aus seiner Kehle. Er wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis der Schmerz ihn in die Tiefe zog. Dieses Gefühl der Ohnmacht ließ er nicht oft zu, doch an diesem Tag fehlte ihm die Kraft, dagegen anzukämpfen. Es fühlte sich an, als hätte ihm ein Dämon einen Strick um den Hals gelegt und wäre jeden Moment dazu bereit, kräftig daran zu ziehen.
Seine Stirn gegen die kalte Scheibe des Panoramafensters gedrückt, beobachtete er die drei Kinder, die auf dem Spielplatz ausgelassen Fangen spielten. Nur ihr fröhliches Lachen und ein leises Grummeln, das hin und wieder aus dem bedeckten Himmel zu hören war, durchbrachen die ansonsten gespenstische Stille, in der die Wohnsiedlung lag.
Mike blickte hinauf, beobachtete die unzähligen Wolken, die der Wind vor sich hertrieb wie Hütehunde ihre Schafherde. Den Wetterprognosen zufolge waren nur einige harmlose Regenschauer zu erwarten. In Mikes Herz sah es ganz anders aus. Dort wütete ein Sturm, und das mit einer Heftigkeit, wie er es schon lange nicht mehr getan hatte.
Als er an seine eigenen Kinder dachte, huschte ein Lächeln über sein Gesicht, doch dann riss ihn der Schmerz endgültig in das dunkle Loch. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr, seine Knie gaben nach und er sank langsam zu Boden. Sein Brustkorb zuckte, doch kein Laut drang über seine Lippen. Den Rücken an die Fensterscheibe gelehnt, beobachtete er die Tränen, die auf seine Hose tropften.
Die Zeit heilt alle Wunden – wie oft hatte er diesen Satz schon gehört? Doch er wusste es besser. Die Zeit heilte einen Scheiß. Damit zu leben, das hatte er inzwischen gelernt. Der Schmerz wurde deswegen nicht weniger.
Als sein Handy klingelte, zuckte er zusammen und hielt sich die Ohren zu, bis es verstummte.
Bei jedem Zusammenbruch fühlte es sich an, als wäre er in einem tiefen Abflussschacht gefangen. Ohne Treppe. Ohne Leiter. Er musste sich aus eigener Kraft die rutschige Wand hinaufkämpfen, bis er das Licht erreichte, das ihn verdrängen ließ, was ihn vor so vielen Jahren in das Loch gestoßen hatte.
Als sein Handy piepte, erschrak Mike nicht mehr, er konnte sich bereits denken, wer ihn suchte. Er fischte sein Telefon vom großen Esstisch, der direkt neben dem Fenster stand, und sah, dass es tatsächlich seine Schwester war, die bereits mehrmals versucht hatte, ihn zu erreichen. Und nun war die vierte Nachricht eingegangen. Bestimmt wusste sie, dass er ihren Anruf nicht hatte entgegennehmen können. Damit sie sich keine Sorgen machte, schickte er ihr ein einziges Wort, das jedoch alles ausdrückte, was sie wissen musste.
Später.
Ein erhobener Daumen und ein Smiley mit dem Herz-Kuss kamen zurück. Mehr brauchte es nicht.
Bald würde es wieder vorbei sein.
GLITZER OHNE GRENZEN
Der Lebkuchen-Prinz
»Du spinnst!« Mein Bruder knallt die Kühlschranktür zu. »Ich verziere doch kein Lebkuchenherz.« Er zeigt mir den Vogel und trabt mit der Coladose in der Hand aus
der Küche.
»Aber es ist für Omama«, rufe ich ihm hinterher. Statt einer Antwort höre ich seine Zimmertür ins Schloss fallen.
Mit neunzehn verspürt er wohl null Bock, für seine Uroma ein Lebkuchenherz zu verzieren, aber er könnte sich doch einfach mal zusammenreißen. Tut ja nicht weh.
Jetzt denke ich schon wie meine Mutter, dabei bin ich nur zwei Jahre älter als er.
Aber gut. Dann bleibt die Arbeit halt an mir hängen. Meine Omama wird schließlich
nur einmal zweiundneunzig.
Mit Feuereifer mache ich mich ans Werk. Ich liebe Lebkuchen. Und meine quirlige
Uroma.
100 BILDER 200 GESCHICHTEN
ALLES EINE FRAGE DER PERSPEKTIVE
Keksmonster
»Was zum Teufel ist das für ein Chaos?«, höre ich meine Mutter hinter mir poltern und halte in der Bewegung inne. Von meinen Fingern tropft Eiweiß, dennoch drehe ich mich zu ihr um.
»Ja, also … Ich backe«, sage ich kleinlaut und blicke mich in der Küche um. Ups!
»Ruby! Du kleckerst den ganzen Boden voll.«
Schuldbewusst blicke ich nach unten. Sie hat recht. Schweigend wische ich mir meine Hände am T-Shirt ab, was mir ein weiteres »Ruby« beschert.
»Hier sieht es aus, als wäre der Road Runner samt dem Kojoten durchgerannt.«
Ich kichere, wohl wissend, dass ihre Aussage kein Witz sein sollte.
Charlies Mutmach-Geschichten für Kinder
Bruno muss ins Krankenhaus von Alexandra Leo
»Den Pulli möchte ich auch mitnehmen.«
Die achtjährige Luna geht zum Bett und hält ihrer Mutter einen blauen Pulli hin.
»Den auch noch?«, fragt ihre Mama. »Wir haben schon zwei Pullis eingepackt, Luna. Das reicht. Aber hol noch deine graue Kuscheljacke mit dem Einhorn drauf.«
»Okay«, sagt Luna und geht zurück zum Kleiderschrank. Sie legt den Pulli hinein und bringt dafür die Jacke zu ihrer Mutter.
»So«, meint Lunas Mama Tina und zieht den Reißverschluss der kleinen Reisetasche zu. »Jetzt gehen wir ins Badezimmer und gucken nach, was du noch alles brauchst.«
Lunas Lieblingsteddybär Bruno schaut den beiden neugierig nach, als sie das Zimmer verlassen. Er ist schon sehr gespannt, wie es im Krankenhaus aussieht. Noch nie zuvor ist er in einem Haus nur für Kranke gewesen. Warum seine Luna dorthin muss, hat er nicht ganz verstanden. Luna hat ihm das heute früh noch mal erklärt. Irgendetwas mit Mandeln, die raus müssen. Bruno hat sich schon mehr als einmal gefragt, warum Luna deswegen ins Krankenhaus muss. Warum hat sie Mandeln gegessen, wenn sie die nicht verträgt? Eigentlich müsste sie nur auf die Toilette gehen, dann kommen die Mandeln auf natürlichem Weg wieder raus. Es könnte aber auch sein, dass mit Mandeln etwas ganz anderes gemeint ist, denkt Bruno und runzelt die Stirn.
»Gute Nacht, Luna«, flüstert Mama dem Mädchen ins Ohr. Sie drückt ihr einen Kuss auf die Stirn und macht Papa Platz, damit auch er Luna eine gute Nacht wünschen kann.
»Hoffentlich kann sie schlafen«, hört Bruno Tina flüstern, als sie und Lunas Papa Paul das Zimmer verlassen.
Bruno kuschelt sich eng an seine Luna. Warum sollte sie nicht schlafen können? Wenn er neben ihr liegt, kann sie immer schlafen.
Schon bald wälzt sich Luna unruhig hin und her. So sehr, dass Bruno unsanft aus dem Bett fällt.
»Mama!«, schreit Luna. Kurz danach geht im Flur das Licht an. »Ich will zu dir«, schluchzt das Mädchen, als ihre Mutter im Türrahmen auftaucht.
»Sch … Alles gut«, sagt Lunas Mama leise, hebt sie hoch und trägt sie aus dem Zimmer.
Bruno bleibt am Boden liegen. Er ist viel zu müde, um auf das Bett zu klettern. Neben ihm liegt ein Einhorn-Kissen halb unter dem Bett. Das zieht er stöhnend zu sich heran und legt sich darauf. Sofort schläft er ein.
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Vitiligo von Josy Massa
„Ich geh ganz sicher nicht zu der Pool-Party. Das kannst du vergessen. Ich mache mich doch nicht zum Gespött der ganzen Klasse. Ohne mich, Stella!“
„Aber Vicky, du kannst nicht ständig nur zu Hause rumhängen. Die Flecken gehören zu dir. Versteck sie nicht.“
„Ich weiß, dass du es nur gut meinst, aber du verstehst das nicht.“
Diesen Spruch habe ich schon sehr oft gehört.
„Sieh dich im Spiegel an“, fährt sie fort. „Du hast eine perfekt gebräunte Haut.“ Ein tiefer Seufzer verlässt ihren Mund. „Muss los. Sonst ist das Essen kalt. Bis später“, murmelt sie und umarmt mich kurz.
Ich blicke ihr hinterher, bis sie um die Ecke biegt. Mit zusammengekniffenen Lippen gehe ich ins Haus.
„Hi, mein Schatz. Wie war die Schule?“, möchte meine Mutter wissen.
„Toll“, murmle ich, während sich meine Gedanken um das eben geführte Gespräch mit Vicky drehen.
„Kein guter Tag?“
Ich werfe den Schulrucksack in die Ecke und meine Schuhe hinterher. „Nicht wirklich.“
„Was ist denn?“
Aufstöhnend setze ich mich an den Esstisch, ziehe die Salatschüssel näher heran und esse direkt aus der Schüssel.
„Kannst du dir den Salat nicht auf den Teller schöpfen? Was ist denn los?“, fragt meine Mutter erneut.
„Vicky“, sage ich nur.
„Wurde sie gehänselt?“
„Nein, das nicht. Aber Marc hat heute seine Geburtstagseinladungen verteilt.“
„Und?“
„Es ist eine Pool-Party. Bei ihm zu Hause.“
Ein „Ah“ entwischt ihr. Mehr sagt sie nicht. Muss sie auch nicht.
„Sie kann sich doch nicht für immer und ewig in ihrem Zimmer verstecken. So schlimm sind die Flecken gar nicht.“
„Für dich nicht, du kennst sie nicht anders, hast sie so lieb, wie sie ist. Aber für Vicky selbst ist es jeden Tag aufs Neue eine enorme Überwindung, überhaupt aus dem Haus zu gehen. Vicky muss erst lernen, sich so zu akzeptieren, wie sie ist.“
„Scheiß Krankheit“, rutscht es mir heraus. „Wieso muss ausgerechnet sie die haben? Es gibt genügend böse Menschen auf dieser Welt.“
Meine Mutter stellt mir den Teller Spaghetti vor die Nase und setzt sich mir gegenüber hin. „Die bösen Menschen sind nicht von Geburt an böse. Niemand hat eine Krankheit wie Vitiligo verdient, aber sie existiert. Wie Krebs und noch viele andere Krankheiten auch. Vicky hat es von ihrer Mutter vererbt bekommen und sie wiederum von ihrer. Auch Vickys Mama musste lernen, damit zu leben. Und eines Tages wird es auch Vicky schaffen, sich so zu lieben, wie sie ist.“
Lustlos stochere ich im Essen herum. „Es ist trotzdem unfair“, sage ich und komme mir selbst vor wie ein kleines, trotziges Kind, das eben erfahren hat, dass der Weihnachtsmann nie wieder Geschenke bringen wird.
„Ich weiß, dass du dich hilflos fühlst. Sei ihr einfach eine gute Freundin. Viel mehr kannst du nicht tun.“
Hilflos. Das Wort dröhnt in meinen Ohren. Hallt nach wie ein Echo. Während ich darüber nachdenke, ob es nicht doch eine Möglichkeit gibt, meiner besten Freundin zu helfen, stopfe ich die Nudeln in mich hinein.
Am Nachmittag stehe ich zusammen mit Vicky und ihrer Mutter in deren Küche. Morgen hat Vicky Geburtstag, wird dreizehn, genau wie ich vor zwei Monaten, und so backen wir eifrig Muffins. Die Küche duftet himmlisch nach Schokolade und ich muss mich zusammenreißen, nicht eines von den bereits fertigen Küchlein in den Mund zu stopfen. Dennoch bin ich mit meinen Gedanken noch immer bei Vickys Krankheit.
Der Ofen piepst. Vickys Mutter stellt den Timer ab, nimmt das Blech heraus und stellt es auf den Gitterrost.
„Jessica?“, sage ich und sie wendet sich mir zu. „Was sind eigentlich die Ursachen für die Weißfleckenkrankheit?“
Vicky lässt fast den Teller fallen, den sie eben aus dem Schrank genommen hat, und starrt mich an. Ihr Blick sagt mehr als tausend Worte, dennoch höre ich die nicht gestellte Frage überdeutlich: Wieso fängst du immer wieder davon an, Stella?
„Hast du schon von Autoimmunerkrankungen gehört? Von denen gibt es sehr viele.“
„Meine Tante hat Morbus Crohn, also eine chronisch entzündliche Darmerkrankung. Die gehört auch zu den Autoimmunerkrankungen, oder?“
„Genau. Bei Vitiligo greift das Immunsystem die Pigmentzellen der Haut an. Es kommt zu einem fleckförmigen Verlust des Pigmentstoffs Melanin. Dieser Stoff ist für die Farbe von Haut, Haaren und Augen verantwortlich. Die Krankheit ist weder ansteckend noch verursacht sie Schmerzen.“ Jessica geht zum Kühlschrank und nimmt den Spritzbeutel mit dem zubereiteten Frosting heraus. Eine Frischkäsecreme mit Vanillegeschmack. Damit verziert sie die abgekühlten Muffins. „Zu der Entfärbung der Haut kommt es, wenn die Melanin bildenden Zellen keines mehr herstellen. Die genaue Ursache ist leider nicht bekannt. Es ist allerdings vererbbar. Ich habe es von meiner Mutter und Vicky von mir. Meine Großmutter hatte es ebenfalls und genauso deren Mutter.“
Für einen Moment ist es ganz still im Raum. Die Worte müssen erst mal bei mir ankommen. „Von Melanin habe ich schon gehört“, sage ich nach einer Weile. „Bei den Pflanzen heißt das Chlorophyll.“
„So ist es. Ohne diesen Stoff wären die Blätter im Frühling und Sommer, wenn sie ausreichend energiereiches Licht bekommen, nicht grün. Im Herbst nimmt die Produktion ab, weil das Licht fehlt, die Temperaturen fallen und die Tage kürzer werden. Deshalb verfärben sich die Blätter, verlieren ihre Kraft und fallen schließlich zu Boden. Mit dem Melanin im Körper ist es ähnlich. Uns fallen zum Glück keine Gliedmaßen oder so ab, dafür verursacht der Mangel des Stoffes die weißen Flecken auf der Haut.“
„Kann man nichts dagegen machen?“, möchte ich wissen, auch wenn ich die Antwort bereits kenne. Ich habe Vicky schon unzählige Male diese Frage gestellt.
„Leider nicht viel.“ Jessica zuckt mit den Schultern. „Es gibt Cremes oder eine Phototherapie. Das ist eine Behandlung mit einem speziellen Licht. Ganz selten gibt es chirurgische Maßnahmen.“
„Die Creme hilft nicht“, sagt Vicky und streut Zuckerstreusel auf die Cupcakes.
Während mein Hirn nach den richtigen Worten sucht, lege ich mir einen Cupcake auf den Teller. „Wie hast du gelernt, damit zu leben?“, frage ich Jessica.
Sie seufzt. „Das war ein langer Weg. Anfangs habe ich mich im Zimmer verkrochen und wollte niemanden sehen.“
Wie Vicky, denke ich.
„Es gab sogar eine Zeit, da wollte ich nicht mal mehr zur Schule gehen. Im Winter war es einfacher, das Haus zu verlassen. Lange Hosen und der Pulli verdeckten die Flecken, und die im Gesicht waren zum Glück nicht schlimm. Im Sommer sah das leider ganz anders aus …“
Mein Blick schweift zum Fenster. Sommer. Wie es Vicky schafft, bei Temperaturen über 30 Grad lange Hosen anzuziehen, ist mir ein Rätsel. „Wie fühlt es sich an, wenn alle einen anstarren?“
Vicky stößt ein zischendes Geräusch aus. „Scheiße!“, sagt sie, stellt den Teller etwas zu heftig auf die Ablagefläche und rennt aus der Küche. Und mir schießen die Tränen in die Augen. Wieso muss ich auch so eine blöde Frage stellen?
„Tut mir leid“, stammle ich.
„Ist schon gut, Stella. Ich finde es schön, dass du es verstehen möchtest. Für Vicky ist es schwierig, da sie in dieser fleckigen Haut steckt.“
„Es wäre so schön, wenn sie diese blöde Krankheit nicht hätte. Ich meine, ich weiß, dass sie nichts dafür kann und du auch nicht, aber es wäre toll, wenn sie normal wäre. Also, eine normale Haut hätte.“
„Was ist schon normal?“, fragt Jessica. „Es gibt so viele Menschen auf dieser Welt, die eine oder sogar mehrere Krankheiten haben. Oder dann haben sie eine große Nase, riesige Ohren, sind dick oder dünn oder haben Warzen mitten im Gesicht. Dann gibt es welche, die haben am ganzen Körper hunderte von Muttermalen oder unzählige Tätowierungen. Sie alle werden als nicht der Norm entsprechend bezeichnet. Deshalb noch mal die Frage: Was ist heutzutage normal? Vicky ist wie du etwas Besonderes. Jeder Mensch ist einzigartig, genau so, wie er ist. Mit all seinen Eigenheiten. Vicky muss nur noch lernen, damit klarzukommen.“
„Wie kann ich ihr dabei helfen?“, frage ich wie aus der Pistole geschossen.
„Indem du ihr die beste Freundin bist, die du ohnehin schon bist. Zeig ihr einfach, dass du sie so magst, wie sie ist. Dass du immer zu ihr hältst.“
„Das werde ich.“ Aber das kann trotzdem nicht alles sein, denke ich und beiße in den Muffin.